Alexandra Millner
Demiurg - Demagog - Pädagog - Poet
Kasperl, der Welt- und Wortverdreher, nach dem Bernardon-Streit als schwer zügelbare Figur des Stegreiftheaters von der Bühne des Personentheaters verschwunden, wurde von Artmann, Bayer und Rühm wieder zurückgeholt, wenn auch um die Dimension der Improvisation vermindert. Mit den Sonderentwicklungen der Lustigen Figur haben die Kasperlstücke der Wiener Gruppe nur wenig gemein. Vielmehr beziehen sie sich vor allem auf die Tradition avant la lettre, die über ein hohes Aggressions- und Subversionspotenzial verfügt (vgl. Schmidt-Dengler 1994). H.C. Artmann zitiert namentlich zwar gerne den späteren Caspar/Kasper herbei, doch bezieht er sich durch die Figur des Punch und in den Genrebezeichnungen diverser Kurztexte auch explizit auf die Tradition des reinen Stegreifspiels: Mit "brighella, sauer wie der mann im mond. canevas zu einer tragicommedia dell'arte" (Artmann 1995, S. 29) liegt jene verkürzte Form der Verschriftlichung der Commedia dell'arte vor, die nur die szenische Aufteilung der Fabel skizziert, aber auch die von Miguel de Cervantes vollendeten Entremés, die spanische Weiterführung der französischen Farce, der derb-komischen Zwischenspiele in den geistlichen Mysterien- und Mirakelspielen, wird von ihm wiederentdeckt. Seinem virtuosen Eklektizismus entsprechend, bedient Artmann sich außerdem bei Arlecchino, Brighella und Pulcinella, der Zanni aus dem traditionellen Personal der Commedia dell'arte, und des aus dem Lyoner Proletariat stammenden Guignol sowie des französischen Pierrots (vgl. Artmann 1995). Wie Gerhard Rühm, der in seinen hanswurststücken (1955/56) seinen Hanswurst mit Colombina, der Dienerin aus der Commedia dell'arte, kombiniert (Rühm 1970, S. 63 - 75), wird auch in Artmanns Kasperlstücken wild montiert, nur Konrad Bayer hält sich - auch was die dialektale Färbungbetrifft - an die berühmte Wiener Kasperlfigur bzw. an Hanswurst.
Der langen Geschichte kürzerer Sinn: Die Kasperstücke der Wiener Gruppe, Midi- bis Minidramen allesamt, scheren sich herzlich wenig um die Genealogie ihrer Lustigen Figur, es gibt ja bei einem notorisch in Geldnöten sich befindenden Wurstel wie ihm auch nichts zu erben. Die Phase des pädagogischen Kinderkasperls und jene des Obrigkeits- und Parteiensprachrohrs überspringend, streifen sie zwar die Altwiener Spaßkomödie, wobei sie bei allem Regiolekt keine konkrete Verortung vornehmen. Wie Stranitzkys Hanswurst ist Kasper im abstrakten, imaginären Raum: ein Antimilitarist, Antiobrist, ein Weiberheld auf Reisen, ein subversiv-feiger Wortverdreher, ein derb-frecher Hedonist. Die Versatzstücke aus der langen Kasperlgeschichte werden ohne große Differenzierung montiert, die Namen wechseln oft im selben Stück, doch bleibt die Identität, die keine ist, dieselbe: herbeizitierter Aufruf einer subvertierten Tradition.
Die Tradition wird auf den Endpunkt zugesteuert: Wird Kasperl als Dichter und Künstler zum Sprachrohr der Wiener Gruppe? Im Gegensatz zu seinen Vorfahren verbündet er sich nicht mit den "allerwertesten hilfspapageien" (Punch und Judy), dem Publikum: "punch: was ist ein feind? Werbeoffizier: jeder, der dir gegenübersteht." Punch mißtraut allem, auch der Sprache; sein Glaube gilt der Poesie, deren magische Macht wie jener der Musik im Ruf nach der Fee Pocahontas anklingt. Zugleich Dichter und selbsterschaffene Figur im eigenen Stück, erfolgt ein verquerer "Subjektsprung" (vgl. Knoedgen 1990, S. 80), der nicht auf die Realität des Schauspielers hinter der Rolle verweist und die Illusion des Schauspiels durchbricht, sondern hinter der Rolle des Kasperls den fiktiven Dichter entdeckt, die Imagination der Imagination, eine unhintergehbare Fiktion, deren Widersprüchlichkeit nicht auszuhalten ist: die Wirklichkeit. Kasperl lässt sich von niemandem erschlagen, er kann nicht sterben, es sei denn er setzt sich selbst auf den elektrischen Stuhl: Hier scheint eine Tradition eigens dazu herbeizitiert, um sich in einem letzten Aufbäumen selbst zu vernichten. Die Widersprüchlichkeit der Wirklichkeitsebenen, die der Subjektsprung bewusst aufeinander zusteuert, sind hier im Gegensatz zur sonstigen Intention dieses Kunstgriffs nicht auszuhalten.
Vom kleinen Mann mit großer Klappe und Revoluzzer wurde Kasperl zum Ideologieträger, der die jeweiligen politischen Ideen der Machthaber unters Volk brachte, die Inhalte seiner mehr oder weniger direkten Botschaften wurden schließlich auf die Kindererziehung reduziert. Im Grunde erging es der Kasperlfigur nicht anders als vielen populären Stoffen und Motiven, die im Laufe der Jahrhunderte variiert, instrumentalisiert und trivialisiert wurden und schließlich in der Kinderliteratur landeten. Von den literarischen Avantgarden wiederentdeckt, wurde er von der Last der Jahrhunderte befreit, entstaubt und mit alter Kraft auf ein Neues belebt. In den Kasperlstücken der Wiener Gruppe wird ihm die semantische Funktion der Figur der Opposition und Verweigerung im abstraktesten Sinne wieder zurück gegeben. Dabei hilft ihnen die Aufführungspraxis des Kabinetttheaters, die durch die Möglichkeiten des Figuren- und Objekttheaters an den richtigen Stellen ansetzen kann, um gezielte, exakte Wirkungen zu verstärken.
Einsam trotzt Kasper dem verkehrten Rest der Welt, sein einziger Verbündeter die Poesie. Ein Dichter von Beruf, lässt er sich nicht begreifen. Ein Dichter, ohne jemals ein Wort geschrieben zu haben, so stellt sich Konrad Bayers kasperl am elektrischen stuhl (1968) dar, so steht es in H.C. Artmanns "Acht-Punkte-Proklamation des poetischen Actes" (1953): "Der poetische Act wird starkbewußt extemporiert und ist alles andere als eine bloße poetische Situation, die keineswegs des Dichters bedürfte. In eine solche könnte jeder Trottel geraten, ohne es aber jemals gewahr zu werden." (Artmann 1970, S. 363)
Artmann 1970= Artmann, H.C.: The Best of H.C. Artmann. Hg. v. Klaus Reichert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970
Artmann 1995= Artmann, H.C.: ein engel hilft mir frühaufstehn. Arbeiten fürs Theater 2. München, Salzburg: Renner 1995
Knoedgen 1990= Knoedgen, Werner: Das Unmögliche Theater. Zur Phänomenologie des Figurentheaters. Stuttgart: Urachhaus 1990 (=Edition Bühnenkunst 2)
Rühm 1972=Rühm, Gerhard: Orphelia und die Wörter. Neuwied, Darmstadt: Luchterhand 1972
Schmidt-Dengler 1994= Schmidt-Dengler, Wendelin: Die Einsamkeit des Kasperls als Langstreckenläufer. Ein Versuch zu H.C. Artmanns und Konrad Bayers Dramen. In: Ders. (Hg.): verLOCKERUNGEN. Österreichische Avantgarde im 20. Jahrhundert. Studien zu Walter Serner, Theodor Kramer, H.C. Artmann, Konrad Bayer, Peter Handke und Elfriede Jelinek. Ergebnisse eines Symposions Stanford Mai 1991. Wien: Edition Praesens 1994, S. 75 - 93
In: Alexandra Millner (Hg.): Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater. Wien: Sonderzahl 2005, S. 143-145