Julia Reichert

Bewegte Metaphern

 

Durch das geöffnete Fenster fällt die Sonne, zerschellt oder zerplatzt auf den Bühnenboden. Der Mond hängt von Seilen gehalten am Himmel oder lose baumelnd an einem Nagel. Schauspieler verbrennen vor Liebe, fahren aus der Haut, wenn sie nicht über ihren Schatten springen können, den langen Schatten, den sie werfen. Wenn sie ihren Text nicht beherrschen, verlieren sie einfach ihr Gedächtnis und nehmen bei der Probe ihren vor Wut kochenden Regisseur auf den Arm, der sich die Seele aus dem Leib brüllt. Sprachbilder, oft reine Redewendungen, hab ich mir immer bildlich vorgestellt. – Vielleicht war das der erste Hinweis auf ein Theater, das unter anderem den Auftrag hat, die Metapher zu bauen. Als eines der ersten Stücke wählten wir zusammen mit der Komponistin Olga Neuwirth eine kurze Erzählung von Daniil Charms aus, Die neugierigen alten Frauen.

 

Eine alte Frau lehnte sich aus übergroßer Neugierde zu weit aus dem Fenster, fiel und zerschellte.
Aus dem Fenster lehnte sich eine zweite alte Frau und begann, auf die Tote hinabzuschauen, aber aus übergroßer Neugierde fiel auch sie aus dem Fenster, fiel und zerschellte.
Dann fiel die dritte alte Frau aus dem Fenster, dann die vierte, dann die fünfte.
Als die sechste alte Frau hinausgefallen war, hatte ich es satt, ihnen zuzuschauen, und ging auf den Malzew Markt, wo man angeblich einem Blinden einen gestrickten Schal geschenkt hatte.

 

Es standen uns zwei Übersetzungen zur Verfügung, die in einem wesentlichen Verbum divergierten: das russische Wort »rasbilas« hieß in der einen Übersetzung »sie brach sich das Genick«. Doch viel später sollte sich herausstellen, dass Peter Urbans Übersetzung (»sie zerschellte«) nicht nur dem Original, sondern auch unseren Umsetzungsmöglichkeiten am nächsten kam, ja, sie sogar nachhaltig »diktierte«. Für die ersten Vorstellungen stellte ich serielle Köpfe aus Kunstkeramik her, die nach dem Sturz aus dem Fenster am Boden vor der Bühne zerbrachen. Die Gesichter der »neugierigen, alten Frauen« waren austauschbar und ausdruckslos. Um den notwendigen Grad an Abstraktion zu erreichen, vor allem beim Herstellen von »menschlichen Puppen« im Gegensatz zu Objekten, arbeite ich ohne Bemalung der Gesichter, doch mit scharfen Konturen; der Spieler sucht sich das Licht in der Bewegung und damit den Ausdruck für seine Figur.?Dann war da eines Tages, als ich zum wiederholten Mal an einem Haus in der Grazer Vorstadt vorbeispazierte, dieses Bild: offenes Fenster im ersten Stock, Kissen zum Aufstützen der Ellbogen, Kaffeehäferl zum Durchhalten, daneben eine Kronenzeitung und ein kleiner, kläffender Hund – gemütlich eingerichtet für die doch anstrengende Tätigkeit war da wieder die alte Frau mit ihrer keifenden Stimme, neben sich eine Kaffeetasse … das war‘s!

Davon ausgehend, dass im Puppentheater Abstraktion durch die Projektion der Rolle in ein Objekt stattfindet, war das mein Objekt, mein Bild! Das Material hat ein Gedächtnis! oder wie mein Freund Reinhard Lettau einmal nach dem Besuch des Kabinetttheaters sagte: »Auch Dinge haben Tränen.« Das Objekt, die Tasse, wird zum »Subjekt« erhoben und »spielt« eine Tasse, die den Kopf einer neugierigen alten Frau spielt: Da gibt es die Mokkamäßige, deren Henkelnase hübsch nach oben gebogen oft noch einen abgeschlagenen Goldrand besitzt; da gibt es die 50er-Jahre-Lilienthaldamen mit asymmetrischen exzentrischen Nasen in allen Pastelltönen; da gibt es die feinen, beinahe durchsichtigen Melangedamen, an deren Nasen noch die Erinnerung an einen abgespreizten, kleinen Finger klebt, und die klobigen Häferlgesichter, die einen an kalt gewordenen, dünnen Milchkaffee denken lassen, mit derben Blumenmustern und noch derberen Sinnsprüchen. Ab und zu mischt sich auch eine fast echte Zwiebelmustrige dazwischen, als sei sie gerade von einem bürgerlichen Kaffeetisch mit Gugelhupf aufgestanden und »aus übergroßer Neugierde« in die Niederungen der Gassenobservation geraten. Jede Tasse erzählt eine Geschichte, ihre Form verleiht den Gesichtern ein zwar mäßig individuelles, doch der Funktion untergeordnetes, gleichförmiges Aussehen. Die sechs alten Frauen auf dem Malzew Markt, die sich »zu weit aus dem Fenster lehnten, fielen und zerschellten«, sterben einen »totalen« Theatertod – und das im Kabinetttheater, in den ehemaligen Werkstatt-Räumlichkeiten der »1. Wiener Porzellanmanufaktur« im Hof der Porzellangasse 49 im Wiener Alsergrund … Der Sprecher, jetzt in der Montur eines Sanitäters, kehrt den – eine ganz eigene Klangfarbe entwickelnden – Scherbenhaufen vor der Bühne weg.

Jahre später, als wir das Stück im russischen Original bei einem Festival in Odessa spielten, fragten wir eine Studentin, die Christopher Widauer die russische Aussprache lehrte, nach ihrer Assoziation zum Wort »rasbilas« – sie antwortete mit einer Metapher: »Ungefähr so, als würde ein Gegenstand, z.B. aus Porzellan, aus großer Höhe fallen und am Boden zerbrechen.«

 

Um mit Konstanty Ildefons Galczynski, dem Meister absurder Regieanweisungen, zu sprechen, fällt hier der Vorhang dem Anlass entsprechend als Leichentuch.

 

In: Alexandra Millner (Hg.): Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater. Wien: Sonderzahl 2005, S. 17–18