Julia Reichert
Was alles wohin führen kann.
Versuch einer Biografie
Meine erste Begegnung mit einer Puppe endete mit ihrer Zerstörung. Ich war vier Jahre alt und hatte mir zu Weihnachten Ross und Wagen, einen Bauernhof mit allen Tieren und weiteres »Bubenspielzeug« gewünscht: Unter dem Christbaum lag stattdessen eine Babypuppe, deren Leben zu kurz für eine Namensgebung werden sollte. Es war eine Gliederpuppe, deren Gliedmaßen mit einer Gummischnur zusammengehalten waren, wie ich sehr bald feststellte. Wie das Innere aussah, das wollte ich den Erzählungen nach sofort wissen. Begreifen heißt Zerlegen, das hat sich in vieler Hinsicht später bewahrheitet – ich zerrte so lange an Armen und Beinen, bis die Schnur riss; der Kopf war mit einem festen Dreh vom Torso getrennt. Angeblich hätte ich die einzelnen Teile den Kühen in der Nachbarschaft vorgesetzt: etwa aus Rache am Christkind für die Nicht-Einhaltung meines dringlichen Wunsches? Puppen haben mich erst in der Pubertät zu interessieren begonnen, da bekam ich aber keine mehr; so musste der Teddybär des Bruders herhalten für Mutterschaftsspiele mit Crèmes und Windeln, bis sein Fell ranzig wurde und mein Bruder böse.
Meine zweite Begegnung war eine vergleichsweise brave: Zum 60. Geburtstag meines Vaters wurde ein Kasperltheater aufgeführt. Ich erinnere mich eigentlich nur an die von einem befreundeten Maler hergestellten Kulissen mit ihren großartigen Perspektiven: Ein Wald etwa, in dem sich bereits der Blick beim Verfolgen eines gewundenen Weges verlor, bevor überhaupt eine Puppe auftreten konnte, um sich zu verirren. Für das Puppenspiel war ich offensichtlich noch zu klein, also spielte ich den Conférencier: Der Text war gereimt und musste auswendig vorgestellt werden – meine erste Erinnerung an Lampenfieber und die Peinlichkeit, sich leibhaftig vor ein Publikum hinzustellen.?
Durch den Beruf meines Vaters Willy Reichert, er war Schauspieler, Komiker genauer gesagt (wenn es stimmt, dass der Komiker ein wortkarger und introvertierter Mensch ist, dann war er ein echter Komiker), hab ich bereits sehr früh Schauspieltheater erlebt. Wenn es Vorstellungen mit dem Vater waren, war die Mischung meiner Gefühle eine zwischen Bewunderung und Peinlichkeit. Er trat oft in Komödien und Schwänken auf, die er allerdings mit seiner großen Darstellerkunst adelte (seine Zeit im Varieté hab ich leider nicht erlebt). Traditionsgemäß kam der Hauptdarsteller nicht zu Anfang des Stücks auf die Bühne; zuerst musste mächtig über ihn dialogisiert werden, um dem Stück gröbere einführende Längen zu ersparen. In der 2. oder 3. Szene trat er dann durch die einzige Tür des Salons, aus der noch niemand auf- oder abgetreten war – … tosender Applaus! Aber der konnte ja nicht der Rolle gelten, das wurde mir schon sehr früh klar, denn diesen Monsieur kannte ja noch niemand … er galt also der Person meines Vaters: Ich empfand das einerseits als »Frechheit« des Publikums, er g e h ö r t e ja schließlich eher mir, andererseits genierte ich mich, als hätte man mich »ertappt«, und wollte mich verkriechen. Als mein Schauspiellehrer für eine Schulaufführung von Was ihr wollt war er wahrscheinlich ein sehr guter, weil gnadenlos strenger Lehrer – oder ich wirklich eine fürchterlich unbegabte Schülerin – fest steht, dass ich das im Verborgenen hinter der Bühne »Spielen« später weit mehr schätzen gelernt habe.
Es folgten mehrere Besuche sowohl des Münchner wie auch des Salzburger Marionettentheaters. In München spielte man die Karl Orff’schen Opern, in Salzburg diktierte Mozart den Spielplan. Ich fragte mich, ob es nur die elterlich angeordneten Pflichtbesuche waren, die diese Aufführungen mit der Zeit langweilig werden ließen, oder doch die vom Publikum aus gesehen hermetisch geschlossene Form der Darbietung: klein und weit weg die Puppen an ihren Fäden schwebend in einem Zauberrahmen mit wunderbarem Licht, aber nicht wirklich er-fassbar, be-greifbar in ihren Gesetzen der Bewegung; dem Zuschauer, mit Noblesse zwar entrückt, sich jedoch weitgehend entziehend!
Erst einige Jahre später, als ich 1971 von meinen Eltern zum 21. Geburtstag eine gemeinsame Reise nach Moskau geschenkt bekam, verwandelte sich durch eine Inszenierung des Puppenspielers und Leiters des Staatlichen Puppentheaters Sergej Obraszov, die wir uns ansahen, mein Interesse in eine anhaltende Lust, das plötzlich direkt erlebbare, in seinen inneren Gesetzen offengelegte Spiel mit Puppen weiterhin zu verfolgen.
Aus dem Reisetagebuch der Eltern:
Wir fanden uns als möglicherweise einzige Touristen in einem spärlich beleuchteten Zuschauerraum voller lärmender Russen im erst kürzlich eröffneten Neuen Staatlichen Puppentheater. Man gab die Göttliche Komödie, weiß Gott ein Glücksfall, da der Stoff so bekannt ist, daß wir die Szenen auch ohne Sprachkenntnisse miterleben konnten – eine unserer Lieblingsszenen war dann allerdings die Bevölkerung des Meeres: Gott Vater (Obraszow selbst) und seine 2 Erzengel sitzen auf einer Wolke und werfen Fischdosen und -gläser, die ihnen von einem Assistenten-Engel aus einem Einkaufsnetz gereicht werden, durch ein Loch in den Wolken hinunter in das Meer, das »unter« der Bühne liegt – lautes Aufklatschen im Wasser – eine der Konserven, deren Namen angesagt wurden, war »Rollmops« … (wir waren die einzigen drei, die hier laut auflachen mußten!) Die Schauspieler, die mehrere Puppen wie Adam, Lilith und Eva führten und auch das erschaffene Getier, sind wundervoll. Der Meister Obraszov als Gottvater, wie einer Kitschpostkarte entnommen, wahrhaft himmlisch! Grotesk komisch beginnt das erste Bild mit der Erschaffung des Firmaments – und die war nachvollziehbar: Gottvater und einige Engel streichen den weißen Bogen, der sich als Proszenium über die Vorderbühne wölbt, blau an. Dann erschaffen sie die Sterne, in dem sie mit Steinschleudern in den Himmel schießen: Bei jedem Schuß ein leuchtender Punkt! Durch das Loch in der Wolke werden dann Steine (= Gebirge) und die Tiere, das waren aufgeblasene Gummitiere, zur Erde befördert. Dann »schweben« die drei hinunter auf die Erde, zu sehen, ob es »gut« war – das ist so bezaubernd in den sich über sich selbst lustig machenden Bewegungen, dazu herrlich gebauschte Gewänder (Sixtina) – Sonderapplaus! Obwohl alles so grotesk war, war nichts Blasphemisches daran. – Obwohl nichts mit »Trick« geschah, vieles bloßgelegt wurde und ganz offen gezeigt, kippten wir sofort in die Magie des Puppenspiels, so als würden die ganz von selbst und ohne ihre Spieler agieren. Unvergeßlich die Erschaffung des ersten Paares, das schlechte Benehmen der rothaarigen Lilith, der Zorn ihres Schöpfers, der sie wieder in ihre Bestandteile zerlegt und wegwirft – und schließlich die Operation (samt OP-Tisch usw.), mit Hilfe derer Eva aus Adams Rippe Stück für Stück gebaut wird. Wundervoll der Schluß: Die Schlange erscheint, es war der eine Erzengel, der hinter dem Baum der Erkenntnis stand, er zieht über den einen Arm das Vorderteil mit Kopf, über den anderen den Schwanz der Schlange und mimt so den Verführer – wofür er dann von einem weißen Engel in einen schwarzen Teufel verwandelt wird.
Erst viele Jahre später wurde mir klar, welchen Meister des Puppenspiels und Vorläufer einer ganz neuen Art von Figurentheater ich da gesehen hatte. In den Jahren danach folgten viele Tätigkeiten und Übungen, die von heute aus gesehen, als Vorbereitung und Einübung für die Prinzipalin eines Puppentheaters von unschätzbarem Wert waren: Ein soziales Jahr in einem Krankenhaus; die Ausbildung zur Bibliothekarin, dann kurz, aber heftig, eine »eigene« Buchhandlung (die Filiale der Münchner Autorenbuchhandlung am Wiener Platz in München): erste Kontakte zu Autoren, deren Texte heute im Repertoire des Kabinetttheaters zu finden sind.
Die ersten mechanischen Puppen entstanden zusammen mit dem Schriftsteller Helmut Eisendle, der nach einem schweren Unfall das Schreiben aufgeben wollte und sich an den Lehrberuf des Telefonmechanikers erinnerte und in dieser Zeit wundervolle Mechaniken, Musikwerke etc. in meine Puppen einbaute. Später nahm er die Schriftstellerei wieder auf, blieb jedoch für einige Jahre mein »Puppendoktor«. Angeregt durch die Künstlerin Burgis Paier zogen wir von Bayern nach Friuli. In Trieste sah ich einige sehr eindrucksvolle Aufführungen auf einer Art Experimentierbühne des Theaters Rossetti mit den Puppen des friulanischen Puppenbauers und -spielers Podrecca. Leider gibt es diese Bühne längst nicht mehr. Ich hatte gerade noch das Glück, einem Meister seines Fachs beim Restaurieren einiger dieser Figuren assistieren zu können.
Meine erste Ausstellung fand in Triest 1981 anlässlich eines Nihilismus-Kongresses im Goethe-Institut statt: Mechanische Puppen mit Spielwerken und Namen wie »Verlassene Braut«, »Onanierender Faun«, »Ein Körper aus Wunsch und Vorstellung« oder »Froschkönigin der Nacht« etc. in Schaukästen, die ein wenig einem Theaterraum nachempfunden waren. Die meisten dieser Figuren konnte ich verkaufen; Künstler wie Günter Brus und seine Frau Ani, Günter Schimunek, Hedi Wasserthal und Barbara Frischmuth begannen sie zu sammeln. Das Münchner Stadtmuseum kaufte eine Figur für seine ständige Sammlung. Im selben Museum findet sich eine Porträtpuppe meines Vaters aus den 1950er Jahren neben einer von Karl Valentin, worüber ich sehr stolz bin.
1983 Umzug nach Graz: Dort entstanden Puppen zu einer Ausstellung in der Kongresshausgalerie in Graz mit Kostümen von Aglaia Lang (Sati(e)re, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung mit einem Vorwort von Wolfgang Bauer: »Puppen spielen«). Felicitas Feilhauer, Werbefachfrau und Puppenliebhaberin des Hanser-Verlags in München, sah auf der Frankfurter Buchmesse 1981 meine erste Werbefigur, die Puppe »Skinfaxi« nach den Illustrationen von Rotraut Susanne Berner zu dem gleichnamigen Buch von Helmut Eisendle, das im Rainer-Verlag in Berlin erschienen war. Dadurch kam es zu einer fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Hanser-Verlag: Als Werbefiguren für die Frankfurter Buchmesse entstanden unter anderem Cosimo aus Der Baron auf den Bäumen und »Marcovaldo« aus Marcovaldo oder die Jahreszeiten in der Stadt von Italo Calvino; »Sophie« aus Sophies Welt von Jostein Gaader; mehrere Figuren aus Sonst noch was von Elke Heidenreich nach Illustrationen von Bernd Pfarr, ein Papiertheater zu Goethes Hexeneinmaleins nach IIlustrationen von Wolf Erlbruch; der »Zahlenteufel« aus dem gleichnamigen Buch von Hans Christian Enzensberger, illustriert von Rotraut S. Berner; einige Schutzengel aus Das Schutzengelbuch von Hans Draxler; Szenen aus Schinken und Ei von John Saxby nach den Illustrationen von Sabine Wilhan und eine Porträtfigur von Umberto Eco anlässlich der Präsentation seines Romans Das Foucaultsche Pendel (alle Hanser Verlag).
1986 fertigte ich im Auftrag des steirischen herbstes Masken und Kopfbauten nach Figurinen von Günter Brus zu dem Theaterstück Erinnerungen an die Menschheit von Gerhard Roth an, das im Schauspielhaus Graz uraufgeführt wurde. Zur gleichnamigen Ausstellung der Figurinen von Günter Brus präsentierte ich vier Puppentheater-»Installationen« mit den auf Puppenformat verkleinerten Protagonisten des Stücks im Künstlerhaus Graz. Hier hatten die Puppen wie die Schauspieler auf der Bühne Masken auf; die »tote« Maske auf dem leblosen Körper bekam etwas überraschend Lebendiges, als würden die Puppen mit ihren Augen hinter der Maske hervorblinzeln. Otto Breicha, der damalige Leiter des Künstlerhauses, wurde Jahre später zu einem Fan der Aufführungen des Kabinetttheaters. Er brachte mir René Altmann, den beinahe vergessenen Autor der Wiener Gruppe, näher, dessen Stück Rummelplatz wir ebenfalls uraufführten.Letzte Übungen in Richtung Puppentheater waren die Jahre, in denen ich malte und Reisen nach Mexiko und Kanada unternahm, wo ich einige Monate in Ingrid und Oswald Wieners Restaurant »Clime‘s Café« das Kochen perfektionierte.
Alle diese verschiedenen Aktivitäten möchte ich heute als Grundstock für mein Theater bezeichnen. Aber erst mit meinem damaligen Mann Christoph Widauer, der Musikmanager und Intendant der »styriarte« war, wurde ein längst gehegter Wunsch Realität: In einem aufgelassenen Pfarrkindergarten in Graz, einer Art Loft mit einem Bühnenausschnitt in seinem Zentrum, entstand, zuerst als einmaliger Abend für Freunde und Bekannte, die erste Aufführung von »Julia Reichert‘s Kabinetttheater«, quasi als Weihnachtsgeschenk für einander und an die Zuschauer. Zuerst wagte ich mich noch kaum an Theaterliteratur: Unter einigen »Tableaux vivants«, kleinen Szenen mit Musik, fand sich aber bereits ein Stück von Daniil Charms, einem Lieblingsautor von mir und, wie sich herausstellen sollte, auch von Olga Neuwirth, die ich in den 1980er Jahren mit ihrer Familie im Dunstkreis der Künstlerkolonien in der Südsteiermark kennengelernt hatte und von der gerade bei den Wiener Festwochen erste Miniopern mit einem Libretto von Elfriede Jelinek aufgeführt wurden. Christoph Widauer erwies sich als äußerst begabter Bühnenbauer und Puppenmechaniker, mit meiner Freundin und Nachbarin, der Kostümbildnerin Aglaia Lang, fertigte ich Bühnenbilder und Kostüme an. Markus Schirmer begleitete am Flügel die kurzen Stücke beziehungsweise führte das Publikum in einer Art musikalischer Conférence von Minidrama zu Minidrama. Eines fand sich in der allerersten Vorstellung (Der Tod und das Mädchen), das, einen Tag zuvor und unter der Regie von Markus Hinterhäuser fertiggestellt, auf den Punkt brachte, was man im besten Sinn die »Unschuld vor dem ersten Mal« nennen könnte. Es klappte, wir haben noch Jahre lang die meisten dieser Stücke gespielt, von Programm zu Programm um einige neue ergänzt. Die neugierigen alten Frauen von Daniil Charms befinden sich noch heute in unserem Repertoire. Im Publikum saßen H.C. Artmann und Wolfi Bauer, Franz Innerhofer und Gert Jonke, Heidi und Max Droschl, Markus Hinterhäuser, Liesl Sertl, Marlene Ropac und viele andere. Ihre Begeisterung, ihr Appell weiterzumachen, hat uns ermutigt, diesen Abend nicht als einen einmaligen »Salonabend« stehen zu lassen. Es folgte heftiges Üben, ja geradezu einer Art »Nachsitzen«, um Versäumtes nachzuholen: sowohl in der Theorie als auch in der Praxis. Ich reiste öfter als früher zu den Puppentheaterfestivals, und wir sahen uns jede erreichbare Puppentheatervorstellung im deutschsprachigen Raum an. Schon bald gingen wir mit unseren Kabinettstücken in öffentliche Räume: zuerst in Wirtshaussäle, wo sich vortrefflich in Kegelbahnen spielen lässt. Dann erste Gastspielauftritte, erste Festivalteilnahmen. Ernst M. Binder, der Leiter des Theaterreferats im Forum Stadtpark, lud uns sehr bald ein, unser erstes Minidramen-Programm dort zu zeigen, denn wir spielten ja auch »Stadtpark«-Autoren. Doch immer wieder »störten« wir mit unseren Probenwünschen den Betrieb des durch viele Referate überlasteten Hauses; so war schon mal zu hören: »Ah, die Reichert, mit ihrem Kasperltheater …« – auch wenn die Urheberin dieser Worte, soviel ich weiß, bis heute in keiner Vorstellung war – es war ein großartiger Hinweis! Diese »Kasperltheater«-Schublade, voll gepackt mit Vorurteilen, musste thematisiert werden! Ein zweites Minidramenprogramm entstand und wurde im Forum Stadtpark uraufgeführt, in seinem Zentrum das Kasperlstück von H.C. Artmann punch und judy – wir beauftragten Olga Neuwirth mit einer Bühnenkomposition, sodass aus dem »Kasperltheater« eine veritable Puppenoper wurde (2003 zuletzt aufgeführt und zu den »Klangspuren« eingeladen durch Thomas Larcher, von dem wir auch ein Stück im Repertoire haben: Ein Stück für vier geschickte Hände und zwei debile Klaviere, 1989). Über Vermittlung von Wendelin Schmidt-Dengler steuerte Alexandra Millner den Aufsatz »Die Geschichte vom ewigen Kasperl« für das Programmheft bei.
Nach 7 Jahren Kabinetttheater in Graz fanden wir in der Wiener Porzellangasse einen Raum, der – nach einem heftigen Umbau – Werkstatt, Theater und einen veritablen Zuschauer- und Wohnraum beherbergt. Er wurde, wie die Zuschauer immer wieder betonen, tatsächlich so etwas wie ein »Salon« in dieser Stadt, man sagt sogar, es sei der letzte seiner Art.?In 15 Jahren sind viele neue Programme entstanden: Unter anderem fand hier am 23. 12. 2004, zwei Tage später als die allererste Aufführung des Kabinetttheaters vor beinahe 21 Jahren in Graz, die ca. 150. Vorstellung von Hugo Ball‘s Krippenspiel. Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend statt. So wurde der ca. 6.000. Bratapfel gefüllt, dessen Duft während der Aufführung ganz »gesamtkunstwerklich-dadaistisch« in den Theaterraum zieht und nach der Vorstellung an jenen Tischen verzehrt wird, an denen viele Besucher schon seit 9 Jahren i h r e Kabinetttheater-Weihnacht zelebrieren.
Der Vorhang fällt hier ziemlich erschöpft, indes auf der Hinterbühne sich die verschiedensten Puppen für die nächsten Proben aufwärmen.
Der letzte Akt mit der tumultarischen Schlußszene hatte sie wohl sehr angestrengt: Apathisch lehnten die einen an den Kulissen, andere stützten sich mehr liegend als sitzend auf Versatzteile und Requisiten. Das verlangte Rücksicht; indes auch meine Bemerkung, daß es mir leid tat, sie in so erschöpftem Zustande anzutreffen, den allerdings die vorhergehende Leistung begreiflich mache, kalt aufgenommen wurde. »Unsinn!« versetzte der jugendliche Liebhaber mürrisch, »von physischer Abspannung kann ja bei uns nicht die Rede sein. Wie sie sehen« – hier sprang er ein paar mal senkrecht in die Höhe, wohl ums Dreifache seiner Leibeslänge – »im Gegenteil[…]‚ verärgert sind wir«, unterbrach ihn die hübsche Schäferin, »weil wir nicht sofort weiterspielen dürfen. Immer wieder reißt man uns mitten aus der Handlung, spannt uns mit ungelösten Konflikten auf die Folter; als ob wir gewöhnliche Schauspieler wären! Die mögen zur Erholung zwischendurch in die Alltäglichkeit ihrer Existenz zurückfallen: […] Wir sind, richtig besehen, nicht mehr und nicht weniger als der zwiefach geläuterte Geist der Poesie, ja, ihre Gestalt gewordene Quintessenz. […] Wir sind, was wir vorstellen, ganz und gar – und: Wir brauchen keine Pause!«?(Max Unold: Interview mit Marionetten (1968), S.194 und 197)
In: Alexandra Millner (Hg.): Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater. Wien: Sonderzahl 2005, S. 9–16