Alexandra Millner
Neue Wiener Kasperlstücke
"alles bin ich . . alles was ihr wollt .."
(die missglückte luftreise (1955), Artmann 1995, S. 27)
Alle heißen Johann, nur Kasper nicht - der heißt Hans. Hanswurst. Oder: Johannes Wurst. So will's zumindest der Hauptmann in H.C. Artmanns Stück die liebe fee pocahontas oder kasper als schildwache (1961), um die lustige Figur zumindest durch nominelle Uniformierung unter Kontrolle zu bringen. / hanswurst in lublin kommt im polnischen Winter mit der verstörenden Wirkung der Welt auf das Individuum nicht zu Rande: allein im Schneegestöber, fehlt ihm der Durchblick: "mir sind doch no net im fasching!" (Rühm 1972, S. 74) / Wenn die ganze Welt auf dem Kopf steht, nur Caspar nicht, dann ist's, als wär es Fasching, jedoch: ein ewig währender. "weil man alles verkehrt sieht, was in wirklichkeit am kopf steht.." (Artmann 1970, S. 120) In Artmanns Dramenfragment die hochzeit caspars mit gelsomina (1960) bleibt der erkennende Blick dem Narren vorbehalten: "hier sehen sie, was sie noch nie / gesehen haben und auch nie sehen / werden!" (Artmann 1970, S. 114) / Kasperl als analphabetischer Dichter, seine Welt ein Produkt der eigenen Phantasie: in der Logik eines zynischen Systems ist es ein größeres Vergehen, auf die amtliche Genehmigung eines Mordes zu vergessen, als ihn zu begehen. Konrad Bayers kasperl am elektrischen stuhl (1968) als Imagination einer Imagination, eine Seifenblase. / Die Welt ist aus den Angeln. Punch muss sich erst das Fenster auf die Bühne holen, um sein schreiendes Baby ("misthering") durch das Fenster werfen zu können: H.C. Artmanns Punch und Judy (1962) entspricht der englischen Lustigen Figur und doch wieder nicht, so wird die Tradition verwurstet und der Sprache zugesetzt.
Das sind Hanswurstiaden, wie sie die Wiener Gruppe schreibt, ein subversives Genre nochmals um die eigene Achse gedreht: zu einem Schwindel erregenden Faden zahlloser Spuren, die hier Eingang gefunden haben. Nur das Aufdröseln des Fadens in seine einzelnen Stränge, das Einspannen in den gattungsgeschichtlichen Kontext machen die Rezeptionslage stabiler. Noch nie stand der Name Kasperl für eine eindeutige Figur, eher noch für ein paradoxes, loses Merkmalbündel; im Laufe der Jahre hat er jedoch zu viele Entwicklungsstadien durchlaufen, als dass er selbst dies noch garantieren könnte: Der Rebell des improvisierten Personentheaters fällt der Zensur zum Opfer, lebt am konstantesten im Puppentheater weiter, wo er von allen ideologischen Seiten zugleich funktionalisiert und diszipliniert und verharmlosend pädagogisiert wird, bis er schließlich u.a. von den Autoren der Wiener Gruppe von der Last seiner eigenen Geschichte befreit wird.
Drei Autoren, fünf kurze Stücke, Kasper(l), Caspar, Hanswurst, Punch - in der Verdichtung wird deutlich, wie fleißig hier montiert wird. Der Namen für ein und dieselbe Figur dürfen es dabei ruhig mehrere sein, auch die Ingredienzien dieses Spaßescocktails sind unterschiedlicher Herkunft, doch entsprechen sie den gemeinhin mit der Lustigen Figur assoziierten, durchaus widersprüchlichen Eigenschaften: der ängstliche Kasper braucht Feenzauber, um die Frau Hauptmännin zu erobern, er ist immer in finanziellen Nöten und gewinnt sein Geld so schnell und überraschend, wie er es wieder verliert; stets ist er in Sorge um seine Colombina, die es jedoch nicht so ernst nimmt mit der Treue und den Männern (wie Frauen); die Obrigkeit scheut er, muss sich ihr jedoch oft unterordnen: als Soldat oder als Diener; tut er in einer Szene besonders autoritätsgläubig, so folgen meist die schlimmsten Unterminierungsversuche, die ihm meist nur unabsichtlich und aus Tolpatscherei zu passieren scheinen, als dass sie geplant wären; selbst mit dem Teufel legt er sich an; die Wörter verdreht er, bis der Sinn aus ihnen herausgeschleudert ist, die Situationen und Interaktionen die unmenschlichen Gesetze der Macht, denen sie gehorchen, nicht mehr verbergen können; zwar ist Kasper dumm, gefräßig, durstig, gewalttätig, feige und ein notorischer Weiberheld, doch steuert er mit blinder Zielsicherheit auf die Knoten des Systems zu, die er weder lösen noch durchschneiden kann, sehr wohl aber sprengen.
Er reist in ferne Länder, er spielt mit dem Feuer und sei's mit dem aus der Hölle, er gibt sich als rassistischer Kolonialist und Antimilitarist, als Nonkonformist und Kinderkasperl. Für seine Untaten muss er mit dem Leben bezahlen. Polizisten, Richter und Henker gehören zum Personeninventar der Punch&Judy-Stücke wie liebestolle Alte und Liebeshändel zum fixen Handlungsrepertoire der Commedia dell'arte. Im Gegensatz zur Kasperlforschung nehmen es Artmann, Bayer und Rühm jedoch nicht so genau mit der traditionellen Kombination der einzelnen Versatzstücke, ist doch die innere Widersprüchlichkeit der Rolle seit jeher eingeschrieben wie die Wandelbarkeit seines Äußeren. Gerade dieses Changieren aber ist der eigentliche Kern der Kasperlfigur.
Artmann 1970= Artmann, H.C.: The Best of H.C. Artmann. Hg. v. Klaus Reichert. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1970
Rühm 1972=Rühm, Gerhard: Orphelia und die Wörter. Neuwied, Darmstadt: Luchterhand 1972
In: Alexandra Millner (Hg.): Niemand stirbt besser. Theaterleben und Bühnentod im Kabinetttheater. Wien: Sonderzahl 2005, S. 131-133