Julia Reichert
Bewegte Sachen
Über die Suche nach der Bildmetapher in Hans Eichhorns Mikrogramm „Herumstehen”.
HERUMSTEHEN
Herumstehen auf dem Stöckelpflaster. Ist das in Ordnung? Wäre in der Zwischenzeit nicht das Entscheidende zu machen gewesen?! Was ist das Entscheidende und wie soll es in Gang gesetzt werden? Ist das Stöckelpflaster ein Hindernis oder gar die Vorhut des Entscheidenden? Herumstehen auf dem Stöckelpflaster, das klingt aber ganz anders. Wie denn? Das klingt nach Belanglosigkeit und nach Warten. Wie klingt Herumstehen auf dem Parkettboden? Das klingt genauso. Wie klingt Herumstehen auf den doppelt gebrannten Fliesen? Das klingt auch nicht viel anders. Wie soll es deiner Meinung nach klingen? Meiner Meinung nach muß es gar nicht klingen, aber das eine ist sicher: Herumstehen muß weg. Herumstehen klingt auf keinen Fall gut. Dann sag ich halt einfach: Stöckelpflaster, Parkettboden, doppelt gebrannte Fliesen. Das klingt besser, das klingt jedenfalls entscheidend, aber … Aber was? Aber der Klang stört mich noch. Es müßte auch der Klang weg. Wie bringen wir den Klang weg, da darf doch gar nichts mehr gesagt werden? Ja, probieren wir es ganz einfach ohne Klang.*
Die Texte von Hans Eichhorn „tönen”, sie klingen in den Dialogen und zwischen den Wörtern. Wie klingt Sprache? Wer sind diese Personen, die da miteinander sprechen? Oder sprechen sie nicht eher aneinander vorbei, wie manche alten Paare, wenn einer schon immer von vornherein zu wissen glaubt, was der andere antwortet? Wie kann man die Interaktion, auch wenn es vermeintlich keine gibt, darstellen?
Eindeutig war hier schwer weiterzukommen.
Zuerst einmal schien die „Ortsbestimmung” Stöckelpflaster, Parkettboden oder doppelt gebrannte Fliesen als brauchbare Metapher nicht „herausrücken“ zu wollen. Etwas wird in Gang gesetzt. Etwas klingt nach Warten. Und zuletzt stört auch der Klang.
Ich stehe vor den genannten Orten. Ich vergrößere den Ausschnitt, fokussiere auf einen kleinen Teil der diversen Böden und verzerre ihn ins Riesenhafte: Löcher werden zwischen den Stöckeln des Pflasters sichtbar, Gras wächst in ihnen. Die Fugen des Parkettbodens sind angefüllt mit Schmutz. Auch in den schmalen Ritzen des doppelt gebrannten Fliesenbodens Reste von Fliesenkleber und Kitt.
Wer könnten diese „bewegten Sachen” sein, die die Fugen unter sich spüren? Den Staub in den Ritzen, die Unebenheiten des Stöckelpflasters, den rissigen Kitt zwischen den Fliesen?
Ein Objekt, das steht und sich bewegt zugleich? Sich also so langsam „in Gang setzt”, dass man es fast nicht sehen kann und die Bewegung zu einem „Herumstehen” wird? So klein, dass das Stöckelpflaster ein Hindernis ist? Soviel ist klar, und die „Vorhut des Entscheidenden” eine rhetorische Angelegenheit.
Ich bin im Wald, um nach Herbsttrompeten suchen. Ich kenne die Stellen, die Mulden und Senken, in denen sie wachsen. Ich kenne die Bäume, in deren Nähe sie sich wohl fühlen und die Tage nach dem Regen, in milder Wärme, wo sie ans Licht kommen. Ich setze mich auf den Waldboden, um meinen Blick zu schärfen, denn bestens getarnt sind die braun-grauen, manchmal violett bis schwarzen Trompeten, die kaum aus dem Herbstlaub herausschauen. Ich sitze auf dem Waldboden und fokussiere den Blick. Dann lasse ich ihn schweifen. Ich beginne die Bewegungen, die ich mache, heftig wahrzunehmen – die Äste unter mir knacken, das Laub, das ich mit den Händen und mit kleinen Stöckchen lockere, um die Pilze aufzustöbern, raschelt laut. Indem ich dem Waldboden so nahe bin, ist jetzt jedes Blatt unverwechselbar und riesig, zwischen den Blättern wuseln große Käfer und meine Schuhe sind die einer Riesin.
Plötzlich ist da diese Weinbergschnecke, die wie aus Stein gemeißelt unbeweglich und anmutig einfach da ist, als säße sie schon immer dort. Sie befindet sich auf einem umgesägten Baumstamm ganz in meiner Nähe, ihr schürzenhafter Körper unter dem schillernden Haus ist fest mit der rauen Rinde verbunden. Ich beobachte sie eine lange Zeit: Wie „angewurzelt” verharrt sie auf der Rinde.
Ich entdecke ein Büschel von den gewünschten Pilzen im Laub, sehe ringsumher immer mehr von ihnen, ich sitze in einem großen Hexenkreis mitten unter Hunderten von Herbsttrompeten, ich sitze auf ihnen, mit meinen Schuhen hab ich einige bereits zurück in den Waldboden gedrückt. Mein Auge hat sich an die Farben gewöhnt, kann an den Pilzen einen grauvioletten Ton erkennen, der sie deutlich vom bunten Laub unterscheidet.
Noch bevor ich das Messer aus der Jackentasche nehme und meinen Papiersack auffalte, schaue ich nochmals zur Weinbergschnecke hin. Sie sitzt – oder steht? – unbeweglich da, jedoch einen halben Meter weiter. Nur sehe ich jetzt, dass ihre Fühler mit den Augenpunkten sich geradezu heftig um ihren Kopf herum bewegen.
Wie sich die zerfurchte Rinde unter ihrem weichen Körper anfühlt, wie es tönt, was sie wohl hört, wenn sie sich bewegt? – Ich habe die Bildmetapher!
Die Möglichkeiten des Theaters mit Objekten (und nicht nur mit Puppen, also verkleinerten menschenähnlichen Figuren) zu arbeiten, sind annähernd grenzenlos. Die Phantasie des Zuschauers belebt das „tote“ Material, noch bevor der Text dazukommt.
Manchmal ist es die schönste Aufgabe, die Regieanweisungen zu den Stücken auf die Bühne zu bringen, hier jedoch ist die Sprache und die gespannte Stille zwischen den Sätzen das, was die Herausforderung darstellt.
Ich stehe auf, ernte die Pilze, bis mein Sack voll ist, und ertaste später zu Hause, nach dem Verzehr eines Tellers Tagliatelle mit Herbsttrompeten, in einer großen Schachtel den passenden Stoff, elastisch und mit fein geäderter Struktur für die „Schürzen” der beiden Objekte, die sich auf der Bühne in – vielleicht für manche Zuschauer gewöhnungsbedürftiger – Langsamkeit aufeinander zu bewegen, auf einer langen Bahn von Kunstrasen, der den Stoff daran hindert, „elegant” zu rutschen. Zwischen den Worten des Dialogs kann man das Rascheln der Plastikgrasstoppeln wahrnehmen. „Probieren wir es ganz einfach ohne Klang” heißt in diesem Fall die Bewegung beenden und den Schlussvorhang animieren.
Um die Langsamkeit der sprechend sich fortbewegenden Figuren und die Leere zwischen ihnen zu betonen, wurden die beiden Schnecken in zwei separaten Guckkastenbühnen animiert.
*Eichhorn, Hans: Herumstehen. In: Ders.: Plankton. Szenen, Mikrogramme. Weitra: Bibliothek der Provinz, o.J. [1999], S. 29.