Hugo Ball
Krippenspiel. Concert bruitiste, den Evangelientext begleitend
Karl Riha
zu Hugo Balls Krippenspiel
In zahlreichen Äusserungen hebt Hugo Ball den Wert der Kindheit und des Kindlichen hervor. So stellt er etwa „alles kindlich Phantastische, alles kindlich Direkte, kindlich Figürliche” als eine „neue Welt” gegen die „Senilitäten” des Erwachsenen oder lobt schlicht die Einfalt des visionären Kindes. „Im unbedacht Infantilen […] treten die von der Logik und vom Apparatus unberührten, unerreichten Urschichten hervor, eine Welt mit eigenen Gesetzen und eigener Figur, die neue Rätsel und Aufgaben stellt, ebenso wie ein neuentdeckter Weltteil”.
Hugo Balls Lautgedichten vorausgelaufen war die Aufführung eines Simultan—Poems, in dem „drei oder mehrere Stimmen gleichzeitig sprechen, singen, pfeifen oder dergleichen”. Der Eigensinn eines Organons, unterstreicht Ball, komme in solchen Simultangedichten drastisch zum Ausdruck, und ebenso seine Bedingtheit durch die Begleitung: „Die Geräusche (ein minutenlang gezogenes rrrrrrrr oder Polterstösse oder Sirenengeheul oder dergleichen) haben eine der Menschenstimme an Energie überlegene Existenz”. Das Poème simultan, heisst es im selben Atemzug, handle vom „Wert der Stimme“, das menschliche Organ vertrete das Individuum in seiner „Irrfahrt zwischen dämonischen Begleitern“, die Geräusche stellten den Hintergrund dar, das „Unartikulierte, Fatale, Bestimmende“: „Das Gedicht will die Verschlungenheit des Menschen in den mechanistischen Prozess verdeutlichen“. Eine eigenwillige Folgerung aus dieser Simultanpoesie und zugleich einen entscheidenden Schritt hin zum Lautgedicht stellt Hugo Balls bruitistisches Simultan—Krippenspiel vom 3. Juni 1916 dar.
Nicht im verschneiten Dezember, sondern zu Beginn des Sommers, als rings um die neutrale Schweiz die blutigen Schlachten des Ersten Weltkriegs geschlagen wurden, machten sich die Dadaisten an eine Aufführung des Weihnachtsevangeliums. Emmy Hennings spielte den Engel, Hans Arp das Schaf, Hugo Ball selbst gab den Wind. Annemarie, Emmy Hennings Tochter, heisst es im Tagebuch, „durfte uns zur Soirée begleiten. Das Krippenspiel wirkte in seiner leisen Schlichtheit überraschend und zart. Die Ironien hatten die Luft gereinigt, niemand wagte zu lachen. In einem Kabarett und gerade in diesem hätte man das kaum erwartet. Wir begrüssten das Kind, in der Kunst und im Leben“. Kein lautes, lärmendes Spektakel also, wie es an manchen der vorhergehenden Abende der Fall gewesen war, sondern eine Präsentation von grosser Verhaltenheit!
Man folgte in sieben Bildern dem bekannten Text des Evangeliums. Die dadaistische Erfindung zielt auf die Öffnung des Lauthorizonts, der sich mit diesen Szenen verbindet: So mischt sich Peitschenknallen unter die Rufe der Hirten, stampft das Öchslein im Stall zu Betlehem in seinem Stroh und lässt die Kette rasseln, während Maria und Josef mit Ramba ramba ihr Gebet anstimmen. Der Engel naht sich mit Propellergeräusch, leise anschwellend, tremolierend, bis zu erheblicher Stärke, energisch, dämonisch, beim Auftritt der heiligen drei Könige mischt sich unter das Schnauben und Wiehern der Pferde das Kacken der Kamele, zu dem ein Klatschen der Hände mit sehr hohler Fläche herhalten muss: Das Jesusbaby präsentiert sich uns schmatzend. Das letzte Bild greift abrupt voraus: Wir hören das Rabata rabata der Pharisäer, Zurufe der Knechte, das Johlen der Volksmenge; selbst Ochs und Esel stimmen Klagelaute an—dazwischen immer wieder Hammerschläge und Nageln. Und da er ward gekreuzigt, da floss viel warmes Blut.
Das Manuskript dieser für Dada—Zürich so zentralen Gemeinschaftsarbeit im „Cabaret Voltaire“ galt als verschollen, bis es 1986 anlässlich einer Ausstellung zum 100. Geburtstag in der Zürcher Kunsthalle auftauchte.